Unser Gesundheitssystem ist überlebenswichtig.

Wir alle zählen auf ein leistungsfähiges System, das nicht nur Leben schützt, sondern das Leben in Deutschland gesund und lebenswert macht.

Health Tranformation Panel

Der Health Transformation Hub der Bertelsmann Stiftung startet das Health Transformation Panel – eine exklusive Umfrage unter 257 Personen, die das Gesundheitswesen maßgeblich mitgestalten. 

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Das Problem

Die fehlende Vernetzung zwischen Haus- und Facharztpraxen, Pflegeheimen und anderen Gesundheitseinrichtungen im ambulanten und stationären Sektor führt zu Informationsbrüchen zwischen den Beteiligten. Das Ergebnis ist eine unkoordinierte und ineffiziente medizinische Versorgung für die Patientinnen und Patienten .

Das Konzept

Das System “solimed” trägt seit über 15 Jahren in einer dezentralen, elektronischen Patientenakte alle medizinisch relevanten Informationen über Patientinnen und Patienten zusammen und ermöglicht den Austausch zwischen den beteiligten haus- und fachärztlichen Praxen sowie Krankenhäusern und Pflegeheimen. 

Das Veränderungsklima

Alle beteiligten Akteure wollen die Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten verbessern. Sie wissen, wo sie ansetzen müssen, um die enormen Reibungsverluste an den Schnittstellen zu reduzieren. Entscheidend war der Wille zur Pionierarbeit und eine gemeinsame Vision, eine Patientenakte zu entwickeln. 

Wichtig für den Erfolg

Ein gemeinsames Ziel, welches nur zusammen im „Team“ erreicht werden kann und die Verpflichtung aller Beteiligten, ein einheitliches Praxisverwaltungssystem zu nutzen, Kommunikationsstandards zu definieren sowie Schnittstellen zur Anbindung Dritter zur Verfügung zu stellen.

Die neue Gesundheitsversorgung


Heute profitieren rund 25.000 Patientinnen und Patienten von einer reibungs- und lückenlosen Versorgung. Die Solinger Kliniken, Praxen und Pflegeheime, die Teil von solimed sind, können sich problemlos untereinander austauschen.  So stehen wichtige Informationen wie Diagnosen, Medikamente, Allergien, Befunde, Notfalleinsatz, Patientenverfügungen und mehr mit nur einmn Mausklick zur Verfügung. Begleitbriefe sind dadurch überflüssig geworden. Qualität, Transparenz und Effizienz der Gesundheitsversorgung wurde dadurch erheblich verbessert.

Für uns ist das System leichter und schneller, und für die Patienten ist es sicherer

Karin Götze, Geschäftsführerin des evangelischen Wohn- und Pflegezentrum Cronenberger Straße

Seiner Zeit voraus – die elektronische Patientenakte im Ärztenetz solimed 

Ihrer Zeit voraus: In Solingen hat das Ärztenetz ”solimed” schon vor 15 Jahren eine elektronische Patientenakte eingeführt – und vieles mehr. Eine Geschichte von dem was geht, wenn man gemeinsam einfach macht.

Kürzlich wollte Dr. Stephan Kochen einer Patientin einen Blutverdünner verschreiben. Ob sie schon einen bekäme, fragte er sie. Sie verneinte. Doch dann sah der Internist in seinem Computer, dass die Frau bei „solimed“ eingeschrieben ist. Er klickte die entsprechende Spalte an und sah: Die Patientin bekommt von einem anderen Arzt sehr wohl einen Blutverdünner. Natürlich verordnete er ihr keinen weiteren. Diese Information hat die Frau möglicherweise vor gravierenden Komplikationen bewahrt oder ihr sogar das Leben gerettet.

Solimed leistet seit mehr als 15 Jahren in Solingen das, was mit der Idee der elektronischen Patientenakte auf Bundesebene seit mindestens ebenso langer Zeit versucht wird: Das System trägt medizinisch relevante Informationen über Patientinnen und Patienten zusammen und stellt diese für alle teilnehmenden haus- und fachärztlichen Praxen, Krankenhäuser und Pflegeheime sowie Pflegedienste zur Verfügung. Medikamente, Allergien, Erkrankungen, erfolgte Behandlungen, Notfalldatensatz: Alles auf einen Mausklick sichtbar und immer aktuell.  Wenn beispielsweise eine Medikation geändert wird, ist das schon eine Stunde später im System sichtbar.  

01: Mit enormen Reibungsverlusten fing alles an

Wie das möglich ist? Dafür lohnt sich ein genauerer Blick in die Geschichte:  Die beginnt 2003, als zunächst 12 Solinger Ärztinnen und Ärzte das „Ärztliche Qualitätsnetz Solingen e.V.“ gründen. Einer von ihnen ist Dr. Stephan Kochen: „Das war eine Zeit, in der die niedergelassene Ärzteschaft das Gefühl hatte, unter die Räder zu kommen. Wir gingen gegen die Gesundheitspolitik auf die Straße und haben solimed erstmal nur als Interessengemeinschaft gegründet“, erzählt der Facharzt für Innere Medizin/ Angiologie. Der Name, den sie sich geben, hat mit Solingen zu tun, mit Solidarität und Medizin. Aber schon bald merken die Ärztinnen und Ärzte, dass sie mehr vereint als der Protest. Sie wollen die Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten verbessern und wissen genau, wo sie ansetzen wollen: „Es gab und gibt enorme Reibungsverluste an den Schnittstellen Haus- und Facharzt und zwischen ambulantem und stationärem Sektor“, sagt Kochen. 

Und genau die nehmen sie sich vor. Sie vereinbaren Kommunikationsstandards: Wer informiert wen, wann und mit welchen Inhalten? Und sie treffen Absprachen innerhalb der Leitlinien: Bei Medikamentengruppen, bei denen es viele verschiedene Präparate gibt, wie etwa bei Betablockern, einigen sie sich auf eine Handvoll, die sie üblicherweise verschreiben. „Das macht die Abstimmung untereinander leichter und erleichtert den Übergang zwischen Praxis und Krankenhaus“.

02: Die Vision der elektronischen Patientenakte

Die vereinbarten Standards sind gut, aber nicht gut genug: „Ich musste ja immer noch bei jeder Überweisung Informationen notieren. Das kostet Zeit und ist trotzdem nie das Gesamtbild“, urteilt Kochen. Einer seiner Patienten habe beispielswese 47 Diagnosen in seiner Akte. „Wenn ich den überweise, notiere ich vielleicht die drei, die ich in dem Moment für relevant halte. Aber ein vollständiges Bild ist das natürlich nicht“. Und so entsteht eine Vision: „Es wäre schön, wir hätten eine elektronische Akte. Eine, bei der wir nichts notieren müssen, sondern auf Knopfdruck die relevanten Informationen an die ärztlichen Kolleginnen und Kollegen frei geben können“. Die Solinger Ärztinnen und Ärzte erfahren, dass es etwas Ähnliches schon in Bayern gibt, nehmen Kontakt zu dem Projekt, zu EDV- und anderen Expertinnen und Experten auf und informieren sich zum Thema Datenschutz. 

03: Von der Vision in die Umsetzung – Vernetzte Versorgung für 25.000 Patientinnen und Patienten

2007 wagen sie schließlich den großen Wurf: Rund 70 Solinger Ärztinnen und Ärzte gründen die „solimed – Unternehmen Gesundheit“ als GmbH & Co. KG und stellen einen Geschäftsführer ein. Auch die Solinger Krankenhäuser werden Gesellschafter. Ihr gemeinsames Ziel: die elektronische Patientenakte. Dafür verpflichten sich alle teilnehmenden Arztpraxen zu einer einheitlichen Praxisverwaltungssoftware und die Kliniken zu einer Schnittstelle, mit der sie ebenfalls Teil des Systems werden. Finanzieren soll sich das Ganze über Verträge zur Integrierten Versorgung (IV) mit den Krankenkassen. Die AOK Rheinland/Hamburg und die BARMER sind zu Beginn dabei.

2008 geht die elektronische Akte an den Start. Heute machen rund 25.000 Patientinnen und Patienten mit. Wenn einer von denen in eine der zwei Solinger Kliniken oder in eine andere Praxis geht, die mitmachen, dürfen diese sich untereinander austauschen. Der Schlüssel dafür ist die Versichertenkarte des Patienten. Dabei sind die Inhalte, die geteilt werden, klar definiert: Beispielsweise Diagnosen, Medikamente, Allergien, Befunde, Patientenverfügung oder andere wichtige Informationen wie z.B., dass der Patienten schon einmal ein Magengeschwür nach Aspirin bekommen hat. „Wenn mir jemand erzählt hat, dass er vergewaltigt worden ist oder eine kriminelle Vergangenheit hat, dann gehört das natürlich nicht dazu“, sagt Kochen. Der Austausch läuft automatisiert im Hintergrund und ist stets aktuell. Begleitbriefe sind überflüssig.

04: Der Schlüssel zum Erfolg – eine gemeinsame EDV

Auch heute machen noch rund 50 Ärztinnen und Ärzte mit – das sind rund 20 Prozent der Solinger Ärzteschaft. Dass es nicht mehr sind, liegt an dem, was gleichzeitig das Erfolgsrezept ist: an der einheitlichen EDV. Denn alle teilnehmenden Praxen nutzen ein einheitliches EDV-System und eine Vernetzungssoftware. Das macht den Datenaustausch einfach, „aber es ist natürlich auch eine hohe Zugangshürde“, sagt Mark Kuypers, von Beginn an Geschäftsführer der „solimed – Unternehmen Gesundheit GmbH & Co. KG“. Wohl auch deshalb ist die Zahl der teilnehmenden Praxen über die Jahre relativ konstant geblieben. Denn so ein neues Praxissystem kostet Geld, es zu installieren Zeit und Nerven. Und das in einer Zeit, in der die Gesundheitspolitikerinnen und -politiker seit vielen Jahren eine verbindliche einheitliche Lösung mal versprechen, mal dessen Einführung sehr schleppend verfolgen. Daher leben viele Ärztinnen und Ärzte also seit Jahrzehnten in der Haltung: Es lohnt sich nicht, in ein System zu investieren, es kommt ja sowieso bald die eine große Lösung.

Die, die erst mal auf die kleine, die regionale, Lösung gesetzt haben, profitieren nun allerdings schon seit vielen Jahren davon. Dass es nicht den erwarteten Boom gegeben hat, liegt aber auch daran, dass das Modell keine großen wirtschaftlichen Erfolge bietet. „Am Anfang bestand die Hoffnung, dass wir das Modell über die IV-Verträge mindestens refinanzieren könnten, es vielleicht sogar etwas zu verdienen gebe“, erzählt Kuypers. Aber inzwischen sind populationsorientierte IV-Verträge für die Kassen nicht mehr von großer Bedeutung, werden vielerorts sogar gekündigt. Heute machen nur noch die AOK Rheinland/Hamburg und die Bergische Krankenkasse mit.

Dass Geld aber nicht die Hauptantriebsfeder darstellt, sieht man auch daran, dass die Macherinnen und Macher sich bislang gegen jede Art von Sponsoring entschieden haben. 

05: Gesundheitsversorgung regional vernetzen – Auch für Krankenkassen von Relevanz

Die AOK ist aus voller Überzeugung von Anfang an dabei. Matthias Mohrmann, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg, sieht in der engen regionalen Vernetzung „ein riesiges Potenzial“. Denn vielen Menschen falle es schwer, sich in im komplexen deutschen Gesundheitssystem zurechtzufinden. „Und da ist es hilfreich und sinnvoll, wenn einen jemand an die Hand nimmt und die Behandlung koordiniert, so wie bei solimed“.

Das Projekt passe auch deshalb so gut in das Konzept der AOK, „weil wir daran glauben, dass die Bundesebene von guten Ansätzen in den Regionen lernen kann. Versorgung findet immer vor Ort statt“. An solimed könne man ganz konkret sehen, wie eine funktionierende elektronische Patientenakte und eine sektorenübergreifende Vernetzung die Versorgung verbessern, „und zwar anhand ganz konkreter praktischer Erfahrungen, statt theoretischer Kenntnisse. Solche Modelle braucht man, um zu zeigen, wie wir Versorgung in den Regionen verbessern und die oft zu starren Grenzen innerhalb der verschiedenen Bereiche unseres Gesundheitssystems aufbrechen können“. 

Dafür fordert Mohrmann bundesweite Regelungen, die den Rahmen vorgeben, aber eine autonome Umsetzung in den Regionen zulassen, „denn es gibt unterschiedliche Bedarfe, deshalb werden die Lösungen sich in den Regionen unterscheiden.“ 

Umgekehrt ließen sich Projekte aber auch nicht einfach verordnen: „Es braucht dafür regionale Akteure, die den Ball aufnehmen, die gibt es nicht immer und überall“. Er werbe aber dafür, die guten Ansätze in den Regionen zu suchen und zu schauen: „Was kann auf Bundesebene übertragen oder übernommen werden?“

06: Ausgezeichnet: Die Ergebnisse der Versorgungsqualität

Über das Projekt QuATRO versucht die AOK, die Arbeit von Arztnetzen miteinander vergleich- und ihre hohe Qualität sichtbar zu machen. QuATRO steht für „Qualität in Arztnetzen – Transparenz mit Routinedaten“. Dabei erhalten die teilnehmenden Arztnetze jedes Jahr einen datengestützten Qualitätsbericht zu 62 verschiedenen Qualitätsindikatoren und Kennzahlen. Sie lassen Merkmale aus den Bereichen Steuerung und Koordination der Versorgung, Prävention und Pharmakotherapie überprüfen, außerdem gibt es Qualitätsindikatoren zu Krankheitsbildern wie beispielsweise Diabetes mellitus, Herzinsuffizienz oder Hypertonie. Solimed macht dabei seit 2019 mit und hat bereits mehrfach die Auszeichnung „Silber“ für ausgezeichnete Ergebnisse in der Versorgungsqualität erhalten.

07: Vom Einzelprojekt in die Regelversorgung – Auch die Landespolitik steht dahinter

Auch die Landespolitik ist vom Projekt angetan. Stephan Pohlkamp vom Referat „Digitalisierung der medizinischen Versorgung“ im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, lobt die insgesamt starke Kultur von Praxisnetzen in Nordrhein-Westfalen: „Und dabei hat solimed natürlich eine besonders lange und erfolgreiche Historie. Die waren der Roadmap ja weit voraus“.  Das Projekt habe einen Mehrwert und einen positiven Impact auf die Versorgung. „Wir freuen uns über das Engagement und die Bereitschaft, sich auf neue Technologien und sektorenübergreifendes Handeln einzulassen“. Ob der Ansatz auf Bundesebene übertragbar ist? „Übertragbar ist der Kern: Dass man in den Austausch geht, dass nicht der Konkurrenzgedanke im Vordergrund steht, sondern der Wille, die Versorgung zu verbessern“. Schade sei nur, dass es für erfolgreiche Projekte wie dieses hier keinen etablierten Weg in die Regelversorgung oder auf Bundesebene gibt. „Da fordern wir als Land NRW einen regelhaften Zugang für erfolgreich evaluierte Projekte, damit vielversprechende Ansätze schneller in die Fläche kommen“.

08: Arztpraxen + Krankenhäuser + Pflege = alles in einem System

An genau solchen Ansätzen arbeitet solimed stetig weiter. Denn auch wenn die elektronische Patientenakte das Herzstück des Ärztenetzes bleibt, so haben die Solinger im Laufe der Jahre immer neue Projekte entwickelt. 

2015 hat das „Unternehmen Gesundheit“ beispielsweise mithilfe eines vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) geförderten Projektes Pflegeheime und -dienste mit in das gemeinsame System integriert. Über extra dafür geschaffene Software-Schnittstellen sind mehrere Pflegeheime und ambulante Pflegedienste Projektpartner. So auch das „Evangelische Wohn- und Pflegezentrum Cronenberger Straße“. Die Einrichtung hat ambulante wie stationäre Angebote, und Geschäftsführerin Karin Götze sagte sofort zu, als sie gefragt wurde, ob sie mitmachen wolle: „Wir sind immer offen für Projekte, und der Ansatz, die Kommunikation zwischen Arztpraxen und Pflegeeinrichtungen zu verbessern, war natürlich gut“. Denn immer und immer wieder in telefonischen Warteschlangen von Arztpraxen zu hängen, um Rezepte zu bestellen, anzumahnen oder ärztlichen Rat einzuholen, ist zeitraubender Alltag von Mitarbeitenden in der Pflege. Da war und ist jede Erleichterung willkommen. 

Und tatsächlich funktioniert das heute bei den Bewohnerinnen und Bewohnern und Pflegedienst-Betreuten, die bei solimed eingeschrieben sind, ganz anders: „Über die Software bestellen wir Rezepte, schicken Befunde, sehen Untersuchungsergebnisse und können die Meinung des Arztes oder der Ärztin etwa zum Foto einer Wunde einholen. Und bei allem können wir auch noch die Dringlichkeit festlegen“, erklärt Karin Götze. Über das System landen die Pflegeeinrichtungen zudem direkt im ärztlichen Sprechzimmer. „Der Arzt oder die Ärztin sehen dann, wozu wir beispielsweise eine Frage haben und rufen dann gegebenenfalls gleich zurück.“

09: ePflegebericht – alle Informationen auf Knopfdruck bei Notfall oder Klinikeinweisung

Seit 2017 gibt es zudem den ePflegebericht: Muss ein Bewohner ins Krankenhaus, schickt die Einrichtung über das System per Knopfdruck die als relevant definierten Informationen in die Klinik. Den Rettungssanitätern im Falle eines Notfalls einen Teil der Einrichtungsdokumentation auszudrucken und mitzugeben, ist nicht mehr nötig. 

„Für uns ist das System leichter und schneller, und für die Patienten ist es sicherer“, sagt Karin Götze. Egal ob ambulant oder stationär: Die relevanten Informationen kämen schneller zu den Ärztinnen und Ärzten. Und das Ganze sei auch noch datenschutzkonform und erleichtere der Pflegeeinrichtung die Dokumentation: Wann wurde ein Arzt verständigt? Mit welchem Ergebnis? Fragen wie diese lassen sich im Nachhinein leicht nachvollziehen. 

Das System hat eine hohe Akzeptanz: „Ich denke, dass 60 bis 70 Prozent unserer Bewohnerinnen und Bewohner mitmachen“, schätzt Karin Götze. 

10: Eine funktionierende Technik ist entscheidend für den Erfolg

Ob das System gut funktioniert oder nicht, hängt jedoch stark von der EDV ab. Denn anders als bei den Praxen, haben die Pflegeeinrichtungen auch weiterhin ihre bisherigen EDV-Systeme, an die das System mit Hilfe von Schnittstellen angebunden wird. Das funktioniert mal besser, mal weniger gut. „Wir hatten da einen Softwareanbieter, der gesehen hat, dass das ein zukunftsfähiges Projekt ist und engagiert daran gearbeitet hat, eine Schnittstelle zu entwickeln. Aber ich kenne das auch anders“, berichtet die Einrichtungsleiterin. Wenn es jedoch dauernd technische Probleme gebe, finde das System keine Akzeptanz. „Dann fangen die Kolleginnen und Kollegen doch wieder an, Faxe zu schicken und zu telefonieren“.

Berit Koch, Pflegedienstleiterin im Evangelischen Wohn- und Pflegezentrum Cronenberger Straße, findet das System übrigens „viel weniger kompliziert“ als das eRezept über die Telematikinfrastruktur. Sie sagt: „Es ist schade, dass nicht auf so etwas aufgebaut wird, sondern stattdessen etwas anderes ganz neu erfunden wird, das aber viel komplizierter ist“.

11: Zukunft für regionale Ansätze

Für die Zukunft der Arztnetze blickt der Geschäftsführer gerade ganz hoffnungsvoll in die Zukunft: „Gesundheitspolitik möchte regionale Strukturen stärken, und da sehen wir uns als Arztnetze als idealen Mitspieler“. Sein Vorschlag: Wenn anerkannte Arztnetze als Institution auch eine so genannte Instituts-Ermächtigung oder den Leistungserbringerstatus bekämen, könnten sie sektorübergreifende Versorgungseinrichtungen betreiben, fachübergreifende Versorgungsangebote erbringen und abrechnen oder auch als regionaler Akteur beispielsweise Arztsitze zumindest zeitweise übernehmen und so zusammen mit den Kommunen die Versorgung sichern: „Wir sind ja nicht gewinnorientiert, wir wollen nur eine gute regionale Versorgung unterstützen und mitgestalten. So wie die Kommune auch“, sagt Kuypers.

„Ich sehe in der engen regionalen Vernetzung ein riesiges Potential.“

Matthias Mohrmann, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg

Interview mit


Dr. Stephan Kochen

„Ich glaube, dass alle diese Dinge am besten regional funktionieren. Deswegen finde ich: Der momentane Trend in der Politik, die regionale Gesundheitsvernetzung zu stärken, das ist der richtige Weg.“  

Dr. Stephan Kochen ist hausärztlich tätiger Internist und Angiologe – also Gefäßspezialist. Gemeinsam mit seinem Kollegen Dr. Christoph Zenses hat er seit 1993 eine Gemeinschaftspraxis in der Innenstadt von Solingen. Kochen ist außerdem medizinischer Geschäftsführer und einer der Gründer von solimed 

Herr Dr. Kochen, Sie und Ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter haben solimed 2003 ja zunächst als Verein und ärztliche Interessengemeinschaft gegründet. Wie kam es dazu, dass Sie 2007 dann eine GmbH gegründet und eine elektronische Patientenakte entwickelt haben? 

Herr Dr. Kochen: Das stimmt, zuerst haben wir uns zusammengetan, weil wir etwas gegen die damalige Politik von Gesundheitsminister Horst Seehofer tun wollten. Aber dann wurde klar, dass es uns vor allem um eine bessere Medizin ging. Deshalb nennen wir uns auch Ärztliches Qualitätsnetz.

Und warum gerade die elektronische Patientenakte?  

Herr Dr. Kochen: Die meisten Ärzte arbeiten mit hoher Qualität. Aber es gibt unheimliche Reibungsverluste an den Schnittstellen Haus- und Facharzt, ambulant und stationär. Wichtige Informationen, die relevant sind, liegen zum Zeitpunkt der Behandlung nicht vor. Deshalb haben wir erst konkrete Absprachen getroffen und dann die elektronische Patientenakte – übrigens von Anfang an zusammen mit den Kliniken – entwickelt. Später kam dann ja auch noch das Thema Pflege/Pflegefachkräfte hinzu.

Sie haben ja dann ein ziemlich großes Rad gedreht, war es schwer, die Kolleginnen und Kollegen davon zu überzeugen?

Herr Dr. Kochen: Unser Credo war immer: Eine saubere Verknüpfung bekommen wir am Ende nur hin, wenn alle die gleiche EDV haben. Daran glaube ich auch immer noch. Sonst löst der eine Anbieter die Dinge so und der nächste anders.

Wie war das eigentlich mit dem Datenschutz?

Herr Dr. Kochen: Wir hatten prompt eine Prüfung durch den Landesdatenschutz – letztlich ohne relevante Beanstandung. Unsere Akte ist dezentral – anders als die elektronische Patientenakte, die wir nun auf Bundesebene haben.

Über Digitalisierung im Gesundheitswesen wird schon sehr lange diskutiert. Waren denn häufiger mal Delegationen hier oder wurden Sie vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) mal gefragt, wie Sie das machen, mit der elektronischen Patientenakte?

Herr Dr. Kochen: Nein, nicht vom BMG. Für uns ist eher wichtig, dass wir hier vor Ort die bestmögliche Versorgung haben wollen. Wenn andere dazu etwas von uns hören wollen, den Austausch suchen, berichten wir gerne. Aber zu mehr haben wir keine Ressourcen, und eine politische Agenda entspricht auch nicht unserem Naturell. Wir sind aber mit der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein und dem Zentrum für Telematik und Telemedizin NRW im Austausch. Unser Geschäftsführer Herr Kuypers ist da sehr aktiv.

Die Ärzteschaft hat Projekte wie die elektronische Patientenakte lange sehr kritisch begleitet. Wenn Sie diese heftig geführten Diskussionen verfolgt haben, was haben Sie da gedacht?

Herr Dr. Kochen: Jede Änderung bedeutet zunächst Mehrarbeit. Jetzt zum Beispiel die elektronische AU und das E-Rezept: Bis die eAU raus ist, kann ich immer noch mal zweimal an meinem Kaffee nippen. Das heißt pro Patient sind das rund zehn Sekunden mehr. An einem Montag habe ich letztens mal fast 40 AUs gemacht, also schon 400 Sekunden verloren. Und für das E-Rezept kommen ähnliche Verzögerungen hinzu. Da klaut die Telematik mir meine Arbeitszeit. Dazu kostet so eine Umstellung echt Nerven. Das alles führt dazu, dass viele Kollegen unwillig sind. Verstehen kann ich das. Es ist nur so: Früher konnte ich mein Auto noch selbst reparieren, jetzt geht da gar nichts mehr. So ist die Entwicklung auch in der EDV eben, es wird komplexer, anspruchsvoller und auch leistungsfähiger. Aber es muss einen Gewinn bringen: Verbesserungen für die Patienten, Praxen und Kliniken müssen das Ziel sein.

Aber Sie haben sich trotzdem einfach auf den Weg gemacht. Warum? 

Herr Dr. Kochen: Wir waren überzeugt, dass wir so eine bessere Versorgung schaffen können. Wir wollten mehr Qualität und wir wollten nicht auf die elektronische Patientenakte warten. Dazu kommen unsere karitativen Initiativen, die uns immer schon wichtig waren.

Haben Sie nicht gedacht: langfristig lohnt sich das, denn es macht die Dinge effizienter und damit günstiger für uns?

Herr Dr. Kochen: Nein, das war nicht der Antrieb. Aber wir wollten das Ganze natürlich möglichst kostenneutral gestalten. Wir haben am Anfang sogar geglaubt, dass man damit als Arztnetz Geld verdienen kann, haben aber dann schnell realisiert, dass das so nicht funktioniert. Aber bis vor Corona haben wir es geschafft, wenigstens kostenneutral zu sein. Jetzt haben die Gesellschafter schon ein bisschen draufgezahlt.

Wenn Sie jetzt mal die Behandlung von solimed-Patienten mit der von normalen Patienten vergleichen – inwiefern ist die unterschiedlich?

Herr Dr. Kochen: Die Patienten und ich profitieren regelmäßig von besserem Austausch der Informationen, den gemeinsamen Absprachen zur Behandlung, den kurzen Kommunikationswegen – es gibt deutlich weniger Reibungsverluste. 

Inwiefern?

Herr Dr. Kochen: Ich mache weniger Fehler durch fehlende oder falsche Informationen. Davon profitiert der Patient. 
Und manchmal erspare ich uns beiden auch doppelte Arbeit: Neulich wollte ich einem Patienten ein Medikament verordnen, für das man aber gute Nierenwerte braucht. Normalerweise hätte ich dem Patienten direkt Blut abgenommen. So habe ich aber durch solimed gesehen, dass der Patient eine Woche zuvor beim Diabetologen war und da eine Blutabnahme hatte. Die habe ich angesehen und dann wusste ich: Alles in Ordnung und brauchte selbst kein Blut abzunehmen. Davon profitieren am Ende sowohl die Krankenkasse als auch der Patient und der Arzt.

Als Sie das damals eingeführt haben, haben Sie das ja neben dem ganz normalen Praxisbetrieb gemacht, war das nicht wahnsinnig aufwändig?

Herr Dr. Kochen: Ja, schon. Aber es lohnt sich. Das Schöne war: Vorher kannte ich etwa 10 Prozent der Solinger Ärzte, und jetzt kennt sich 90 Prozent der Solinger Ärzteschaft untereinander. Kurze Kommunikationswege auch mit den Klinikärzten und Pflegefachkräften erleichtern die Versorgung unserer Patienten. Und was haben wir hier in Solingen alles schon erreicht! Wir bewegen in Solingen richtig was. Ich glaube, dass alle diese Dinge am besten regional funktionieren. Deswegen finde ich: Der momentane Trend in der Politik, die regionale Gesundheitsvernetzung zu stärken, das ist der richtige Weg. 

Das Ärztenetzwerk und seine erweiterte Versorgungsumgebung

Gesundheitskiosk

Im Oktober 2023 wurde der solimed Gesundheitskiosk Solingen eröffnet. Dort unterstützt ein mehrsprachiges und multiprofessionelles Team bei sozialen und medizinischen Fragen. Auch hier sind – neben der Stadt Solingen – die AOK Rheinland/Hamburg und die Bergische Krankenkasse Projektpartner. „Wir wollen niedrigschwellige Versorgungsangebote etablieren, die auf die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger zugeschnitten sind. In Solingen bieten wir durch die Partnerschaft mit solimed Beratung und Versorgung aus einer Hand“, erklärt Mohrmann das Engagement der AOK. 

Digitale Lösungen in den Alltag bringen

Das neueste Projekt ist der so genannte „eHealth-COMPATH“. Es wird über den Innovationsfonds vom Gemeinsamen Bundessauschuss gefördert und soll herausfinden, wie digitale Lösungen im Gesundheitswesen besser als bisher im Versorgungsalltag ankommen. „Wir haben da ja schon viele Erfahrungen gemacht und arbeiten mit dem Concept Mapping-Ansatz“, erklärt Kuypers. Dabei werden die verschiedenen Akteurinnen und Akteure an einen Tisch geholt. Sie besprechen die Hürden bei der Umsetzung neuer technischer Lösungen, werten Erfahrungen aus und leiten daraus Instrumente ab, wie Implementierungsstrategien aussehen sollten, damit sie wirken. Untersucht wird das am Beispiel des E-Rezepts an der Schnittstelle von Arztpraxis und stationärer Pflege.

Soziale Projekte

Auch der 2004 gegründete Verein „solimed e.V.“, in dem heute rund 110 Solinger Ärztinnen und Ärzte Mitglied sind, entwickelt sich immer weiter. Bereits 2007 haben Kochen und Kolleginnen und Kollegen die „Medizinische Hilfe Solingen“ gegründet, die heute unter anderem mit dem „MediMobil“ in Kooperation mit der Solinger Tafel und dem Deutschen Roten Kreuz Obdachlose und andere Bedürftige in Solingen versorgt, die „Praxis ohne Grenzen“, in der Menschen ohne Krankenversicherung unentgeltlich behandelt werden, die „Medizinische Basishilfe“, bei der ein  kleines solimed Praxis-Netzwerk Patientinnen und Patienten in Not hilft – ohne Bürokratie und Abrechnung, die „Medikamententafel“ für Patientinnen und Patienten, die sich Zuzahlungen nicht leisten können. Alle diese Projekte werden über Spenden finanziert und den ehrenamtlichen Einsatz der Mediziner getragen. Kochen erklärt das so: „Wir haben alle ein bisschen dieses Helfersyndrom. Aber das ist ja dann das, was den Unterschied macht.“

Vielfach prämiert

Für die zahlreichen Projekte – dessen Netzwerkbüro nach wie vor nur aus zwei Personen besteht – bereits viele Preise gewonnen: 2009 beispielsweise den Innovationspreis der KV Nordrhein und den Gesundheitspreis Nordrhein-Westfalen, 2015 den Preis für Gesundheitsnetzwerker und 2021 den zweiten 2. Platz beim Telemedizinpreis 2021. 

Dass solimed in der Vergangenheit über Fördermöglichkeiten so viele Projekte realisieren konnte, sieht Kuypers zweischneidig: „Wir freuen uns darüber natürlich sehr. Aber am Ende geht es doch um gute Lösungen für alle. Und dafür müsste man den Mehrwert von so erfolgreichen Projekten heben und schneller dafür sorgen, dass solche Ansätze in die Versorgung für alle kommen.“ Bei der elektronischen Patientenakte hat er dafür auch eine Idee: „Ein Problem sind die vielen verschiedenen EDV-Anbieter mit ihren unterschiedlichen Lösungen. Da könnte das Ministerium doch alle verpflichten, diese Schnittstellen zu öffnen.“ Eine Vernetzungssoftware, die für alle Anbieter von Praxisverwaltungssoftware-Lösungen offen zugänglich wäre, würde Kuypers Ansicht nach das Gesundheitssystem sehr weiterentwickeln und auch eine erwünschte und erforderliche Datengenerierung z.B. für Versorgungsforschung ermöglichen.

QuATRo: Qualitäts-Check für Arztnetze der AOK

Ihre Ansprechpartnerin  

rund um die Geschichte des Wandels „Seiner Zeit voraus – die elektronische Patientenakte im Ärztenetz solimed“

Rosemarie Wehner

Senior Project Manager Bertelsmann Stiftung rosemarie.wehner@bertelsmann-stiftung.de