
Digitale Transformation nutzen
Boock
Wie Telemedizin die Gesundheitsversorgung eines Pflegeheims sichert
Stufen der Veränderung
Die Ausgangssituation
Für das „Wohnhaus Hanna Simeon“ mit geistig schwerst-mehrfach behinderten Menschen begann die Digitalisierung der Versorgung mit einer Hiobsbotschaft: Die Hausärztin, die das Pflegeheim jahrzehntelang betreut hatte, ging in den Ruhestand.
Die Versorgungslücke
Da kein Hausarzt in der Umgebung die Versorgung übernehmen wollte, drohte den Heimbewohnern die notdürftige Versorgung über wechselnde Bereitschaftsärzte, den kassenärztlichen Notdienst oder im Ernstfall sogar vermeidbare Krankenhauseinweisungen.
Das Veränderungsklima
Nach langer Suche übernahm eine Ärztin in 75 Kilometer Entfernung die hausärztliche Versorgung mit Vor-Ort-Visiten und Online-Sprechstunden, dann wurde in einem Krankenkassen-Pilotprojekt der Einsatz gerätegestützter Telemedizin mit digitalen Diagnoseoptionen getestet.
Die Herausforderung
Für die digitale Versorgung musste das Pflegeheim eine Glasfaseranbindung nebst WLAN sowie Umbauarbeiten zur Installation der nötigen Technik im Gebäude, Bürokratieaufwand und Schulungen für das Pflegepersonal ermöglichen.
Der Erfolgsfaktor
Die neue Hausärztin, das Pflegeheim und die Krankenkasse wollten die drohende Versorgungslücke schließen und hatten ein gemeinsames Ziel: die Heimbewohner via gerätegestützter Telemedizin bestmöglich versorgen.
Die Lösung
Im Pflegeheim wird ein vernetztes „Mini-Labor“ im Handtaschenformat mit Diagnostik- und Blutdruckmessgerät sowie Stethoskop genutzt, die Befunde gehen per App an die Ärztin, die dafür nur ihr Smartphone benötigt.
Über die Region und das „Wohnhaus Hanna Simeon“
Der Ort Boock im Osten Mecklenburg-Vorpommerns
Die Gemeinde Boock gehört zum Amt Löcknitz-Penkun im Landkreis Vorpommern-Greifswald und befindet sich kurz vor der Grenze zu Polen. Im Landkreis leben rund 237.000 Einwohner mit sinkender Tendenz in der Vergangenheit und rückläufiger Prognose für die künftige Entwicklung. Das Durchschnittsalter beträgt 47,8 Jahre, deutschlandweit sind die Menschen im Schnitt 44,6 Jahre alt. Die größte Stadt ist Greifswald mit rund 60.000 Einwohnern. Vorpommern-Greifswald hat eine Fläche von 3.945 km² – das entspricht 60 Einwohnern pro km². Damit ist die Region der drittgrößte Landkreis Deutschlands und zählt hinsichtlich der Bevölkerungsdichte zu den am dünnsten besiedelten Gebieten (Platz 11).

Laut Kassenärztlicher Vereinigung Mecklenburg-Vorpommern sind im Bundesland 902 Hausärzte einschließlich hausärztlicher Internisten tätig (Stand: 19.02.2025). Im Bundesdurchschnitt versorgen 60 bis 63 Hausärzte 100.000 Einwohner, in Mecklenburg-Vorpommern sind es sogar 66 Hausärzte, aber diese sind im Flächenland meist nur über größere Entfernungen erreichbar. Im Bundesvergleich schneidet Mecklenburg-Vorpommern auf der Ebene des Bundeslandes damit zwar gut ab, aber die hausärztliche Versorgung ist innerhalb des Bundeslandes nicht flächendeckend und in ländlichen Gebieten gibt es Versorgungslücken.
Quelle: destatis.de. statistikportal.de, statista.de, wegweiser-kommune.de, deutschlandatlas.de, Stand Dezember 2023
Das „Wohnhaus Hanna Simeon“
Das „Wohnhaus Hanna Simeon“ in Boock wurde 1991 als Behindertenheim für junge geistig behinderte Erwachsene gegründet und ist seit 1997 ein Pflegeheim für geistig schwerst- und mehrfach behinderte Menschen. Seit 2004 gehört das Wohnhaus zum Diakoniewerk Kloster Dobbertin mit Einrichtungen für hilfebedürftige Menschen an zahlreichen Standorten in Mecklenburg-Vorpommern. Das Gros der Pflegeheimbewohner ist zwischen 40 und 65 Jahre alt, der Jüngste ist 25, die Älteste 83, manche leben schon seit über 40 Jahren hier. Insgesamt 57 Mitarbeitende kümmern sich im Wohnhaus Hanna Simeon um die Bewohner, 29 Pflegefach- und Pflegekräfte sowie 4 Alltagsbegleiter betreuen die zu Pflegenden rund um die Uhr. Die nächsten Krankenhäuser sind rund 40 Kilometer entfernt.
Reportage
Telemedizin 2.0 im Pflegeheim – warum Online-Sprechstunden Klinikeinweisungen verringern können
Gerätegestützte Videosprechstunden sind eine erfolgversprechende Handlungsstrategie für Pflegeeinrichtungen. Eine engagierte Ärztin und ein experimentierfreudiges Pflegeheim mit rund 50 geistig schwerst-mehrfach behinderten Menschen zeigten im Osten Mecklenburg-Vorpommerns in einem Pilotprojekt, dass es dabei nur Gewinner geben kann, wenn alle mitmachen (und das Internet funktioniert)

„Das war unsere größte Motivation: Wir möchten die Leute hier gut versorgt wissen bis an ihr Lebensende.“
Pflegeheimleiterin Peggy Zimmermann
01: Die Vorgeschichte: Hiobsbotschaft fürs Pflegeheim
Das offene Zufahrtstor symbolisiert die Philosophie der Pflegeeinrichtung „Hanna Simeon“ in Boock: Die geistig schwerst-mehrfach behinderten Menschen werden in ihrer Freiheit und ihrem Bewegungsdrang nicht eingeengt. Mitten im Wald, in einem gepflegten Park liegt das Gebäudeensemble mit 57 Betten, weitläufigen Rasenflächen und historischer Backsteinmühle. Macht ein Bewohner einen „Ausflug“, kommt schon mal ein Anruf aus einem der umliegenden Dörfer, wo er gesichtet wurde. Man geht entspannt mit den Besonderheiten der Menschen aus dem Pflegeheim um, im Sportverein sind die Heimbewohner und -bewohnerinnen willkommen, Dorf- und Heimfeste werden gemeinsam gefeiert.
Die idyllische Ruhe hat allerdings einen entscheidenden Nachteil: Arztpraxen sind in der spärlich besiedelten Gegend meist weit entfernt. Für das „Wohnhaus Hanna Simeon“ begann die Suche nach hausärztlicher Versorgung vor Jahren mit einer Hiobsbotschaft: Die Hausärztin aus dem Nachbarort, die das Pflegeheim jahrzehntelang „analog“ – also mit regelmäßigen und im Bedarfsfall spontanen Vor-Ort-Visiten mit kurzem Anfahrtsweg – betreut hatte, ging in den Ruhestand und für die Praxis fand sich zunächst kein Nachfolger. Ein Ersatz war nicht in Sicht, denn für das zeitaufwändige Engagement in einem Pflegeheim mit besonderen Menschen und speziellen Erfordernissen nebst weiter Fahrstrecken konnte sich kein Hausarzt begeistern. Dabei brauchen gerade Menschen mit geistiger Beeinträchtigung und Mehrfacherkrankungen eine vertrauensvolle Beziehung zum gewohnten Hausarzt und einen regelmäßigen Gesundheits-Check nebst spontaner Akutversorgung im Erkrankungsfall.
02: Das Problem: Drohendes Versorgungsdilemma
Den Heimbewohnern drohte die notdürftige Versorgung über wechselnde Bereitschaftsärzte, den kassenärztlichen Notdienst oder im Ernstfall sogar eigentlich vermeidbare Krankenhauseinweisungen. Ein beschwerliches Szenario für geistig beeinträchtigte Menschen, die ihre gewohnte Umgebung nebst Vertrauenspersonen brauchen und im Krankenhaus nicht adäquat versorgt werden können. Das wollte Pflegeheimleiterin Peggy Zimmermann ihren Schützlingen ersparen und machte sich auf die Suche nach einer passenden Lösung für die spezielle Heimsituation: „Das war unsere größte Motivation: Wir möchten die Leute hier gut versorgt wissen bis an ihr Lebensende.“
Zimmermanns Wunschkandidatin war Monique Salchow-Gille, Hausärztin im 75 Kilometer entfernten Friedland, die keinerlei Berührungsängste mit psychiatrischen Erkrankungen hatte und zudem auch Internistin, Geriaterin, Notfallmedizinerin und Palliativmedizinerin ist: „Als an mich herangetragen wurde, dieses Pflegeheim hausärztlich zu übernehmen, habe ich zugestimmt, regelmäßig zweimal im Quartal vor Ort zu sein und auch dringliche Hausbesuche zu ermöglichen. Aber bei einfachen medizinischen Fragestellungen ist es mir nicht möglich, diese Entfernung täglich oder mehrfach in der Woche neben meiner Praxistätigkeit zu überwinden. Und da boten Videosprechstunden die Chance, eine hochwertige Qualität der Versorgung jederzeit aufrecht zu erhalten.“ Für Monique Salchow-Gille war die unterstützende digitale Diagnostik Voraussetzung für die Pflegeheimversorgung als Hausärztin außerhalb des Einzugsbereiches ihrer Praxis. Für Peggy Zimmermann war die hybride Versorgungslösung aus nötigen Vor-Ort-Visiten und digitalen Videosprechstunden ein gangbarer Kompromiss.
03: Die Idee: Videosprechstunde wiederbelebt
Etwa zur gleichen Zeit suchte die AOK Nordost nach einer Möglichkeit, gerätegestützte Telemedizin in der Versorgung zu etablieren. Dort hatte man erkannt: Die innovative Technologie kann weitaus mehr als die zu Coronazeiten etablierte Videosprechstunde. Insbesondere für Menschen, deren ärztliche Versorgung nicht immer gewährleistet ist, liefern die Medizingeräte zur Ermittlung und Übertragung von Patientendaten via Bluetooth und App in Echtzeit an den Arzt eine praktikable Lösung für die Behandlung von Patientinnen und Patienten – ohne dass der Arzt vor Ort sein muss.
„Zum einen wollten wir die Lebensqualität als auch die Versorgungsqualität für die Menschen steigern, indem wir dafür sorgen, dass sie ärztlich gut versorgt in den Pflegeeinrichtungen verbleiben“ erklärt Tom Forbrich, Bereichsleiter Verträge und Produkte bei der AOK Nordost. „Außerdem wollen wir das Geld der Beitragszahler natürlich wirtschaftlich einsetzen.“ Pflegeheimbewohner müssen aufgrund ihrer Erkrankungen oder ihres Alters oftmals mit hohem Transport-, Personal- und Kostenaufwand zu den Arztpraxen begleitet werden. Warum diesen Menschen nicht beschwerliche Wege ersparen und die ärztliche Versorgung via Bildschirm zu den Patientinnen und Patienten bringen?
04: Die Herausforderung: Geburtsschmerzen der Digitalisierung
Eine eher rhetorische Frage in Zeiten der zunehmenden Digitalisierung, denn letztendlich verfolgten alle drei Parteien – die neue Hausärztin, das Pflegeheim und die Krankenkasse – ein gemeinsames Ziel: die Heimbewohner via Telemedizin bestmöglich versorgen. „Ich war mit der AOK Nordost wegen einem Pflegeheim-Plus-Vertrag für Boock im Gespräch, wollte die Versorgung telemedizinisch ergänzen und die Krankenkasse hatte die passende Hardware dazu“, erinnert sich Monique Salchow-Gille.
Bei Heimleiterin Peggy Zimmermann und Pflegedienstleiterin Ines Wegner stieß die Anfrage der Krankenkasse für ein Pilotprojekt in Boock auf offene Ohren. Auch wenn das Pflegeheim zunächst vor dem massiven Problem stand, eine Glasfaseranbindung nebst WLAN im gesamten Gebäude installieren zu müssen. Inklusive aufwändiger Umbauarbeiten zur Installation der nötigen Technik im gesamten Gebäudekomplex, da bis dato nur der Verwaltungstrakt rudimentär ans Internet angeschlossen war. Denn ohne stabile Netzanbindung war Telemedizin am Krankenbett nicht möglich. Dazu kam der bürokratische Aufwand des Umstellungsprozesses – Anträge mussten gestellt, Angebote eingeholt, Verträge geschlossen, Wirtschaftspläne konzipiert, der Datenschutz beachtet und das Pflegepersonal geschult werden. Geburtsschmerzen der Digitalisierung.
05: Blick nach vorn: Ärztin + Pflegepersonal + Hardware = Boock-Pilotprojekt
2022 war es dann soweit: Aus dem gesamten Pflegeheim und somit auch direkt von den Krankenbetten der Bewohnerinnen und Bewohner konnten Daten per WLAN über eine gesicherte Datenleitung versendet werden. „In einem sechsmonatigen Pilotprojekt haben wir die Videosprechstunde mit dem neu erweiterten Modul der Telemedizin weiterentwickelt, praktisch getestet, an die Bedingungen in Boock angepasst und langfristig etabliert“, resümiert Monique Salchow-Gille. Besonderes Augenmerk lag dabei auf dem Workflow zwischen Ärztin und Pflegepersonal, um den Umgang mit der neuen Technik im Pflegeheim so zu gestalten, dass am anderen Ende der Datenleitung brauchbare Befunde bei der Ärztin ankommen. Mit Erfolg, denn die Idee aus dem Pilotprojekt ist inzwischen in einen Selektivvertrag in Boock überführt worden.
Wichtig dabei: Hausärztin Salchow-Gille und ihre persönliche ärztliche Diagnostik nebst Behandlung wurde durch die Technik nicht obsolet. Vielmehr wird menschliche Medizin durch die digitale Technik unterstützt. „Digitale Angebote ersetzen die ärztliche Versorgung vor Ort nicht“, betont Henning Kutzbach, Landesgeschäftsführer der BARMER in Mecklenburg-Vorpommern, und seit Anfang 2024 auch Partner-Krankenkasse des Selektivvertrages. „Es ist ein Zusammenspiel zwischen einem Arzt bzw. einer Ärztin und der Telemedizin.“ Gerätegestützte Telemedizin ist eine sinnvolle Ergänzung, wenn z.B. Vitalparameter wie Kreislauf-, Blutdruck- und Zuckerwerte oder Verläufe bei Atemwegs- und Hauterkrankungen, der Zustand nach Krankenhausaufenthalten, eine Wundheilung oder Medikamentendosierungen ärztlich überwacht werden müssen, der Arzt aber nicht immer vor Ort sein kann.
06: Die Lösung: Mini-Labor im Handtaschenformat
In Boock ist Pflegedienstleiterin Ines Wegner heute quasi der verlängerte Arm der Ärztin. Dafür benötigt sie das für die telemedizinische Behandlung zertifizierte Equipment: Ein Tablet mit der Anbieter-App. Ein Stethoskop. Ein Blutdruckmessgerät. Und ein kleines Diagnostikgerät, etwa halb so groß wie ein Smartphone. Mit diesem vernetzten „Mini-Labor“ im praktischen Handtaschenformat kann sie das Herz und die Lunge abhören, den Blutdruck und die Körpertemperatur überprüfen oder auch die Sauerstoffsättigung im Blut messen und ein EKG erstellen. Und diese Werte direkt an die Hausärztin Salchow-Gille übermitteln. Den Umgang mit der Technik erlernte Ines Wegner in einer Online-Schulung und dank Telefon-Support des Anbieters, die Untersuchungsmethoden per Learning-by-Doing im Austausch mit der Ärztin, die per Bildschirm auch schon mal Anweisung gibt, wo Ines Wegner das Stethoskop genau aufsetzen soll.
Monique Salchow-Gille benötigt lediglich ihr Handy, das sie immer bei sich trägt, sowie funktionierendes Internet. Jegliche Kommunikation sowie der Austausch der im Pflegeheim ermittelten Patientendaten findet entweder live via Bildschirm oder zeitunabhängig über die Patientenakte in der App statt. Für die App gab es eine kleine Schulung, aber der Umgang mit Patientendaten und technischen Geräten fällt ihr leicht, da sie ähnliche Vorgänge aus ihrer Praxis kennt. Allerdings: „Hausarzt-Klassiker“ wie Blutabnahme, Bauchabtasten & Co. kann die gerätegestützte Telemedizin nicht ersetzen. Und die persönliche Arzt-Patienten-Beziehung ohnehin nicht. Monique Salchow-Gille ist weiterhin zu Regelvisiten mindestens einmal im Quartal sowie bei akuten Erkrankungen im Pflegeheim und kennt die gesundheitlichen Besonderheiten ihrer Patientinnen und Patienten aus der persönlichen Behandlung.
07: Die Umsetzung: Schnellere Hilfe auch bei Akuterkrankungen
Die telemedizinischen Sprechstunden werden als regelmäßige Zeitfenster sowohl im Terminkalender der Praxis als auch im Alltag des Pflegeheims festgelegt. „Eine Televisite führe ich mit dem Patienten, Ines Wegner und der betreuenden Pflegekraft im Behandlungszimmer oder direkt am Patientenbett durch“, erklärt Monique Salchow-Gille. „Wenn ich im Gespräch feststelle, ich bräuchte eine Auskultation der Lunge, kann das live vor Ort gemacht werden, ich kann es beurteilen und die Therapie einleiten. Oder mir zur Kontrolle die Daten am Abend oder am nächsten Tag noch einmal schicken lassen.“
Die Untersuchung an sich dauert etwa so lange wie eine Vor-Ort-Behandlung. „Aber die Effizienz ist größer, wenn die Vitaldaten im Pflegeheim zuvor oder während der Televisite erhoben werden, ich die Symptome mit den Patienten und der Pflegekraft besprechen und gezielt nachfragen als auch eine ergänzende Diagnostik mit dem telemedizinischen Equipment vornehmen kann. Denn sonst müsste ich den Praxisbetrieb auch bei einfachen Auffälligkeiten unterbrechen und den Patienten mit insgesamt drei Stunden Fahrzeit aufsuchen. Oder der Patient müsste mit einem Transport in die Praxis verbracht werden“, sagt Monique Salchow-Gille.
Ist ein schnelles ärztliches Feedback im Akutfall gefragt, schickt das Pflegeheim eine Nachricht mit den Symptomen oder auch schon ermittelten medizinischen Daten wie Temperatur, Blutdruck oder Sauerstoffgehalt über die App. Auch Fotos, Videos oder das Abhorchen der Lunge per Stethoskop können so übertragen werden. Bei Monique Salchow-Gille piepst das Handy und sie kann sofort reagieren – wie bei einem Patienten, der mit akuten Beschwerden in ihrer Praxis auftaucht. Mit dem entscheidenden Vorteil, dass sie die medizinischen Daten aus dem Pflegeheim in 75 Kilomer Entfernung direkt beurteilen und zeitnah entscheiden kann, ob es sich wirklich um einen zeitkritischen Notfall handelt oder ob sie später antworten, einen Termin zur Videosprechstunde vereinbaren oder weitere medizinische Daten digital anfordern kann.

„Telemedizin kann Krankenhauseinweisungen nicht komplett verhindern, aber verringern.“
Ärztin Monique Salchow-Gille
Die Gewinner des Projektes
Interview
Interview mit
Stefanie Drese
„Wir müssen ausprobierfreudig sein“
Im Kleinen ausprobieren, was dann im Großen unser Gesundheitssystem voranbringt – so lautet das gesundheitspolitische Credo von Stefanie Drese, Ministerin für Soziales, Gesundheit und Sport in Mecklenburg-Vorpommern


Frau Ministerin, Sie haben Dr. Salchow-Gille in Ihrer Praxis in Friedland bei einer telemedizinischen Behandlung über die Schulter geblickt – ist Telemedizin unsere Lösung der Zukunft?
Stefanie Drese: Dr. Salchow-Gille hatte mir erzählt, sie betreut ein Pflegeheim in 75 Kilometer Entfernung. Und wenn man das erstmal hört, denkt man, wie soll das funktionieren. Aber ich bin wirklich beeindruckt gewesen. Telemedizin ersetzt nicht den Hausarztbesuch im Pflegeheim, kann die Versorgungssituation aber mit geregelten Abläufen und in der Kombination – hier ist der Arzt, dazwischen die Technik und in der Einrichtung geschultes Personal – viel besser abdecken. Und ich finde es deswegen gerade für Mecklenburg-Vorpommern so überzeugend, weil wir mit der dünnsten Bevölkerungsdichte Deutschlands kombiniert mit der ältesten Bevölkerung auf viel Fläche natürlich ganz besonders einfallsreich sein müssen, wie wir eine qualitativ gute medizinische Versorgung abdecken können. Und Telemedizin ist eindeutig ein Baustein, der dazu beitragen kann.
Wie wichtig ist dieser Baustein in der gesundheitlichen Versorgung in Mecklenburg-Vorpommern?
Stefanie Drese: Es ist sehr wichtig, dass wir an solchen Projekten im Kleinen zeigen, was in der Praxis möglich ist, weil es natürlich in großen Strukturen immer Leute gibt, die dem skeptisch gegenüberstehen. Wir haben in dieser Legislatur eine Gesundheitskommission eingerichtet mit allen Playern, die sich um die Gesundheitsversorgung in Mecklenburg-Vorpommern kümmern, um die Schwerpunkte der Versorgung politisch zu klären und zu begleiten. Und einer der Punkte in dieser Gesundheitskommission ist die telemedizinische Versorgung im Land – wir empfinden das als einen Lösungsbaustein. Und trotzdem gibt es, so wie in Friedland, immer Ärztinnen und Ärzte, die sagen, was ist eigentlich möglich, ich will nicht auf die große Lösung warten, ich fange im Kleinen schon mal an.
Wie können Sie solche Engagements politisch unterstützen?
Stefanie Drese: Indem wir solche Projekte im Anschub finanzieren, Machbarkeitsstudien erstellen und Öffentlichkeitsarbeit dafür machen. Das sehe ich als unsere Aufgabe, mutig an der einen oder anderen Stelle voranzugehen, wenn eine Krankenkasse nicht gleich in die Finanzierung einsteigt. Häufig müssen wir Dinge erst mal ausprobieren, damit sie dann in die Regelversorgung münden. Natürlich habe ich die Hoffnung und die Erwartung, dass die Krankenkassen dann sagen: Okay, so kann es gehen. Zudem habe ich die Möglichkeit, Projekte über die Gesundheitsministerkonferenz den anderen Länderkollegen vorzustellen und zu sagen, wir haben diese oder jene Erfahrung gemacht.
Ein Bundesland mit 1,6 Millionen Einwohnern als bundesweites Versuchslabor?
Stefanie Drese: Es ist wichtig, dass wir solche Dinge in Mecklenburg-Vorpommern ausprobieren. Irgendwann werden auch größere, dichter besiedelte Bundesländer auf so etwas zurückgreifen müssen. Nur ist da der Druck im Moment noch nicht so groß. Bei uns ist diese Kombination aus der ältesten Bevölkerung, großer Fläche und wenig Menschen so, dass wir jetzt schon handeln müssen. Und da sehe ich uns – gerade im Bereich der Telemedizin – in einer gewissen Vorreiterrolle, auch die eine oder andere Sache zu testen. Wohl wissend, dass manches vielleicht nicht klappt, man es wieder über den Haufen wirft. Aber ich glaube schon, dass wir da ganz besonders ausprobierfreudig sein müssen. Und dass die Telemedizin ganz viel an Unterstützungsmöglichkeiten für die Zukunft bietet.
Warum macht der Einsatz von Telemedizin in Pflegeheimen aus Ihrer Sicht Sinn?
Stefanie Drese: Wir haben das erste Mal in Deutschland die Situation, dass wir Menschen aus der Generation in der Pflege haben, die jetzt um die 90 sind. Und gleichzeitig ist auch schon die nächste Generation der 70-Jährigen langsam in der Pflege. Und das stößt auf eine dünne Personaldecke in Pflegeeinrichtungen – also wenig Mitarbeiter und immer mehr zu Pflegende, die wir aber qualitativ hochwertig versorgen wollen. Ich glaube, dass die Einrichtungen multiprofessionelle Teams und viel Unterstützung technischer Art brauchen, um ihre Arbeit qualitativ auf dem Niveau weiter darstellen zu können. Und da gehört Telemedizin als unterstützendes Versorgungsinstrument dazu.

8 Argumente für gerätegestützte Telemedizin
Als Chance wahrgenommen
Ausgangspunkt war die drohende Versorgungslücke im Pflegeheim, die alle Beteiligten als Chance begriffen, eine effizientere Methode der hausärztlichen Versorgung voranzubringen.
Ein gemeinsamer Weg
Allen Beteiligten war bewusst, was eine fehlende hausärztliche Versorgung für die Heimbewohner bedeutet – und machten im engen Austausch miteinander möglich, was für den Veränderungsprozess nötig war.
Ärztliches Know-how
Die Ärztin war in ihrem Praxisalltag längst digital unterwegs und hat die Idee der Telemedizin initiiert und den Veränderungsprozess im Pflegeheim mit ihrem Know-how engagiert begleitet.
Keine Hürde zu hoch
Für die Umstellung auf gerätegestützte Telemedizin waren technisches Know-how sowie Umbauarbeiten für die nötige Internetanbindung gefragt – das Pflegeheim machte es möglich.
Startschuss Pilotprojekt
Die Krankenkasse setzte auf die innovative Technik, unterstützte eine Testphase finanziell und hat die gerätegestützte Telemedizin inzwischen in einen Selektivvertrag überführt.
Schulung fürs Pflegepersonal
Sowohl die Ärztin als auch der Support des technischen Dienstleisters standen für Schulungen und Fragen des Pflegepersonals zum Umgang mit der ungewohnten Technik zur Verfügung.
Überschaubare Investition
Die technischen Geräte zur Diagnostik werden den Pflegeeinrichtungen vom Anbieter per Leasing-Vertrag überlassen, sodass keine hohe Anfangsinvestition nötig ist.
Mehr Sicherheit in der Pflege
Letztendlich ist das Handling des nötigen Equipments unkompliziert, wenn man mögliche Berührungsängste überwunden hat, und es erleichtert den Arbeitsalltag für das Pflegepersonal.

„Unsere Bewohner finden das cool, wenn sie Frau Doktor am Bildschirm sehen und dann winken und freuen sie sich.“
Pflegeleiterin Ines Wegner
Kontakt
Ihre Ansprechpartnerin
rund um die Geschichte des Wandels „Boock – Telemedizin im Pflegeheim“
