
Arbeitsbedingungen und Zusammenarbeit verbessern
MVZ Birkenallee
Teamorientierte Hausarztversorgung: Wie neue Rollen die Medizin verändern
Stufen der Veränderung
Die Ausgangssituation
Im emsländischen Papenburg sind die Wege zu medizinischer Versorgung weit, die Wartezeiten lang. Und das wird in Zukunft noch schlimmer. Dr. Volker Eissing ist ein Hausarzt, der eine mangelhafte Versorgungssituation nicht akzeptieren will.
Die Herausforderung
Die Zahl der Ärztinnen und Ärzte in der Region nimmt in den kommenden Jahren ab, gleichzeitig wird die Bevölkerung älter, braucht also eher mehr medizinische Versorgung. Wie aber gelingt mehr medizinische Versorgung mit weniger ärztlichen Kapazitäten?
Die Lösung
Dr. Volker Eissing setzt darauf, dass Medizinische Fachangestellte und andere Gesundheitsberufe sich so weiterbilden, dass sie viele Aufgaben übernehmen können, die vorher rein ärztlich waren. Eine besondere Rolle spielen dabei studierte Physician Assistants.
Der Erfolgsfaktor
Die Physician Assistants spezialisieren sich und werden Experten in ihren jeweiligen Bereichen. Zusammen mit Hausarzt Eissing, mit niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten und kooperierenden Kliniken können sie so eine hochwertige Versorgung vor Ort sicherstellen.
Über die Region und das MVZ Birkenallee
Papenburg im nördlichen Emsland
Papenburg liegt im Landkreis Emsland, im westlichen Niedersachsen kurz vor der Grenze zu den Niederlanden. Die Stadt an der Ems ist ein wichtiger Wirtschaftsstandort für die Region, besonders bekannt für die Meyer-Werft, die hier riesige Schiffe baut, deren Überführung in die Nordsee regelmäßig Schaulustige anlockt. Rund 40.000 Menschen leben in den insgesamt sechs Stadtteilen der Stadt und auf einer Fläche von knapp 12.000 Hektar. Die Bevölkerung ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen, die Arbeitslosigkeit ist niedrig.

Bei der ambulanten medizinischen Versorgung steht die Region vor ähnlichen Problemen wie viele andere in Deutschland: Bei Haus- wie Fachärzten stellt die Gruppe der Über-60-Jährigen den größten Anteil. Die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen skizziert in ihrem Bericht zur „Vertragsärztlichen und vertragspsychotherapeutischen Versorgung in Niedersachsen 2025“ die Aussichten: Danach drohen Teilen von Niedersachsen eine hausärztliche Unterversorgung. Papenburg und die benachbarten Regionen Leer-Süd, Meppen, Cloppenburg gehören zu den besonders betroffenen Regionen. Im Planungsbezirk Papenburg gibt es schon jetzt 16 freie hausärztliche Sitze.

Das MVZ Birkenallee versorgt 22.000 Menschen im Quartal
Hausarzt Dr. Volker Eissing hat immer wieder Ideen zur Verbesserung der Versorgung. Aus einer Einzelpraxis wurde dabei im Laufe der Zeit ein Medizinisches Versorgungszentrum mit acht Standorten.
Heute versorgt die MVZ Birkenallee GmbH rund 22.000 Patientinnen und Patienten im Quartal. Dr. Eissing arbeitet dabei mit 103 Medizinischen Fachangestellten, 26 Physician Assistants – davon 14 noch im Studium – und acht ärztlichen Kolleginnen und Kollegen, sechs von ihnen bereits im Rentenalter. Neben der hausärztlichen Versorgung erhalten die Menschen hier auch Hilfe bei neurologischen, orthopädischen, dermatologischen oder kardiologischen Problemen. Das System Eissing beruht auf Delegation und Mitarbeitenden, die sich stetig weiterqualifizieren. Dafür hat der Arzt sogar eine Hochschule nach Papenburg geholt.
Reportage
Versorgung neu gemacht – Was passiert, wenn Ärzte delegieren
Wie gelingt mehr Versorgung mit weniger Ärzten? In Papenburg funktioniert das mit einem Team aus verschiedenen Gesundheitsberufen. In den Schlüsselrollen: Physician Assistants und die Delegation. Die Geschichte von einem Hausarzt, der Probleme löst.

„Das ganze Projekt ist eine Geschichte der Mangelversorgung und der Versuch, trotz des Mangels irgendwelche Lösungen zu finden, damit die Versorgung trotzdem stattfindet“
Dr. med. Volker Eissing, Facharzt für Allgemeinmedizin
01: Der Blick in die Praxis: Schlangestehen und Hilfe in vielen Lebenslagen
Wenn das Medizinische Versorgungszentrum Praxis Birkenallee in Papenburg morgens um 6 Uhr öffnet, dann steht oft schon eine Schlange von Menschen vor der Tür. Menschen, denen es schlecht geht, die eine Krankschreibung brauchen oder etwas anderes, das keinen Aufschub duldet. Und sie wissen: Ihnen wird hier schnell geholfen. Denn Hausarzt Dr. Volker Eissing macht keine Termine. Seine Akutsprechstunde ist grundsätzlich offen. Unterstützt wird er dabei von Physician Assistants (PA). Davon beschäftigt er 15 in der Praxis – sieben ausgebildete und acht, die ihr Studium in Kürze abschließen. Physician Assistants, auf Deutsch „Arztassistent:in“, ist ein akademischer Gesundheitsberuf, der eng mit Ärztinnen und Ärzten zusammenarbeitet und ihnen viele Leistungen abnimmt. Einige der PAs unterstützen Eissing auch bei der Akutsprechstunde. Darunter ist auch Anastasia Weizel. Sie ist spezialisiert auf alles, was mit Wundversorgung, Rheuma oder Haut zu tun hat. Dafür bietet sie spezielle Sprechstunden an, in denen sie viele chronische Kranke über Jahre betreut. Aber morgens unterstützt sie eben auch bei den vielen akuten Krankheitsbildern. Sie nimmt Beschwerden auf, macht Anamnesen, gibt Spritzen, schickt Patienten zur Blutabnahme ins Labor, macht Ultraschall. Die meisten Patientinnen und Patienten kommen schon jahrelang. Und wenn die Kolleginnen in der Anmeldung fragen: „Zum Doktor oder zu Anastasia Weizel?“ dann entscheiden sich viele für die 38-Jährige. Denn die löst das Problem auch – und meist ist die Wartezeit bei ihr kürzer. „Die Patienten sagen: Ist ja klar, wenn du nicht weiterkommst, holst du den Chef“, erzählt Anastasia Weizel. Meistens muss sie das jedoch gar nicht.
Diese Arbeitsweise funktioniert genauso mit ihren Kolleginnen und Kollegen. Beispielsweise mit Ayline Schlarmann, die auf Kardiologie spezialisiert ist und Bea Sancak, die sich vor allem um Palliativpatienten kümmert.
Das MVZ Praxis Birkenallee gehört, wie das ebenfalls in Papenburg gelegene MVZ Praxis am Splitting, zur MVZ Birkenallee GmbH. Beide haben zusammen fünf Zweigpraxen, insgesamt acht Standorte und behandeln rund 22.000 Patientinnen und Patienten im Quartal. Eissing tut das zusammen mit insgesamt 103 Medizinischen Fachangestellten – dabei sind zehn von ihnen zu NäPas (Nichtärztliche Praxisassistentin) fortgebildet, 26 Physician Assistants – davon 14 noch im Studium – und acht ärztlichen Kolleginnen und Kollegen, von denen sechs eigentlich schon im Rentenalter sind. Gemeinsam versorgen sie die Menschen im üblichen Sinne hausärztlich, aber auch, wenn sie etwa neurologische, orthopädische, dermatologische oder kardiologische Probleme haben. Eissing setzt dabei auf die Qualifikation seiner Mitarbeitenden und auf modernste Technologie und künstliche Intelligenz (KI). Die PAs spielen dabei eine besondere Rolle, weil sie viele ärztliche Aufgaben übernehmen können und dürfen.
Das Team macht Untersuchungen und Behandlungen, die weit über das übliche Spektrum einer hausärztlichen Praxis hinausgehen. Und es betreibt außerdem den Palliativstützpunkt und stellt die Betriebsmedizin für die Meyer Werft sowie weitere Unternehmen in der Region. Außerdem gibt es auf dem Gelände an der Birkenallee noch viele weitere Einrichtungen rund um Gesundheit: etwa einen ambulanten Pflegedienst und eine Tagespflegeeinrichtung, eine Apotheke, eine Ergotherapie- sowie eine Physiotherapie-Praxis.
02: Die Vorgeschichte: Von einem, der Versorgungsprobleme lösen will
Die Geschichte des MVZ Birkenallee ist die Geschichte von einem Arzt, der Probleme nicht beklagt, sondern pragmatische Lösungen für sie findet. Im Emsland beispielsweise machen weite Distanzen und viele freie Arztsitze die Versorgung immer schwieriger. Das wird sich in Zukunft noch verschärfen. Aber weil Dr. Eissing davon überzeugt ist, dass nicht nur Ärztinnen und Ärzte gute Medizin machen können, hat er ein multiprofessionelles Team aufgebaut, an das er Aufgaben abgibt, für dessen Arbeit er aber weiterhin die Verantwortung trägt.
Die Geschichte vom MVZ Birkenallee ist vielleicht auch eine Vision für die Zukunft. Eine Zukunft, in der sich durch Delegation und Teamarbeit mit weniger Ärztinnen und Ärzten mehr Patientinnen und Patienten versorgen ließen – und das auch noch besser als heute vielerorts üblich.
Wenn etwa im Emsland jemand Rheuma bekommt, hat er nicht nur Schmerzen, sondern auch noch ein Problem mit der medizinischen Versorgung. „Da gibt es sehr lange Wartezeiten oder man muss weit fahren“, sagt Anastasia Weizel. Deshalb seien die Patienten über die Versorgung in dem MVZ sehr froh. Und die läuft standardisiert: Beschreibt jemand beispielsweise Symptome, die auf Rheuma hindeuten könnten, wird er meist ihr zugeordnet. Sie veranlasst dann eine Blutentnahme, macht einen Ultraschall von den Gelenken und gegebenenfalls noch ein spezielles bildgebendes Verfahren von den Händen, das Entzündungen zeigt („Xiralite“). Und sie lässt einen Fragebogen zur Familienanamnese ausfüllen. Alles zusammen schickt sie digital an die Internistin und Rheumatologin Dr. Werner aus Düsseldorf, die mit dem MVZ kooperiert und die Daten auswertet. „Ich gehe dabei absolut nach ihrem Schema vor“, erklärt Weizel.
Mindestens alle zwei Wochen tauschen sich die beiden per Videosprechstunde aus. Bei Bedarf auch mit den betreffenden Patienten, denen die Ärztin dann Befund und empfohlene Therapie erläutert. Auch bei der weiteren Behandlung ist Dr. Werner immer im Hintergrund. „So versorgen wir die Rheumapatienten gut, ohne dass die dafür nach Düsseldorf oder woanders hinfahren müssen“, erklärt Weizel.
03: Die Idee: Gemeinsam Versorgung schaffen
Mit diesem Prinzip der fachärztlichen Supervision kann das MVZ weit über das übliche hausärztliche Spektrum hinaus behandeln. Eissing hat solche Lösungen beispielsweise auch für die Kardiologie, die Dermatologie und die Neurologie gefunden – alles Fachbereiche, in denen die Menschen in Papenburg sonst sehr lange Wartezeiten und/oder lange Wege hätten. Um jedes dieser Spezialgebiete kümmert sich jeweils ein oder eine PA. Und jedes Modell funktioniert etwas anders. In der Kardiologie etwa, wo es häufig schnellen Handlungsbedarf gibt, hat das MVZ Birkenallee einen Kooperationsvertrag mit der Universitätsklinik Münster und mit der Berliner Charité. Die PA Ayline Schlarmann ist auf Kardiologie, insbesondere auf Herzechos, spezialisiert und hat die Telefonnummer des Handys, das die Experten aus Münster immer in der Kitteltasche tragen. „Wenn die aufgrund unserer Befunde den Eindruck haben, das könnte etwas Gefährliches sein, bekommen unsere Patienten noch am nächsten Tag einen Termin in der Uniklinik“, erzählt Eissing. Die Klinik profitiere davon, „dass von uns Patienten mit einer abgesicherten Diagnose kommen, die wirklich einen stationären Aufenthalt brauchen“. Sonst kämen Patienten ja oft mit dem Hinweis „bekommt schlecht Luft, und dann beginnt die ganze Diagnostik“. Die Arbeitsteilung spart also auch Kosten und Kapazitäten. Und sie sorgt für Wissenstransfer und mehr Qualität: „Dass ein Patient mit Herzinsuffizienz, die auf keinerlei Medikamente anspricht, vielleicht auch eine Einlagerung des Proteins Amyloid im Herzmuskel haben könnte, hätte ich als Hausarzt nie auf dem Radar gehabt. Ayline Schlarmann hat in Kooperation mit der Uniklinik schon drei solcher Fälle gefunden, denen dann geholfen werden konnte“, erzählt Eissing. „Das ist eine viel bessere Qualitätssicherung als bei mir.“ Die PA vermeidet dabei auch manchen Krankenhausaufenthalt: „Herzinsuffiziente Patienten bestelle ich regelmäßig ein. Wenn die beispielsweise Wasser einlagern, sehe ich das meist so rechtzeitig, dass wir das hier beheben können, ohne dass sie dafür ins Krankenhaus müssen“, erzählt die gelernte MFA und studierte PA, die lange in der Kardiologie einer Klinik gearbeitet hat.

04: Der Weg: Von der Einzelpraxis zum MVZ
Die Darstellung der MVZ Birkenallee GmbH, deren einziger Gesellschafter Eissing ist, ist ziemlich kompliziert: Unter dem Dach der GmbH gibt es die zwei MVZ-Praxen, eine Berufsausübungsgemeinschaft mit einer Allgemeinmedizinerin, einen Zweig mit Betriebsmedizin und eine Gelbfieberimpfstelle, außerdem ein weiteres allgemeinmedizinisches MVZ und einen Palliativstützpunkt. Eissing betreibt außerdem einen Pflegedienst und eine Tagespflege. Nebenan gibt es darüber hinaus einige Apartments, die Eissing an alte und schwerstkranke Menschen vermietet. Sie leben dort autark, aber auf dem Flur ist rund um die Uhr eine Krankenschwester anwesend. Der Arzt sorgt so dafür, dass Menschen in verschiedensten Lebensphasen Betreuung finden. Dabei greifen alle Bereiche ineinander. Dafür ist auch die Behandlung von Schmerzpatientinnen und -patienten ein Beispiel: Der PA Michael Sonntag-Groen hat in diesem Bereich über Jahre eine große Expertise aufgebaut. Damit das ganze System auch für die Mitarbeitenden funktioniert, hat Eissing im Haus gegenüber des MVZ Birkenallee übrigens eine Spielgruppe für deren Kinder eingerichtet.
Insgesamt 135 Lohnabrechnungen muss Eissing jeden Monat machen. Der Allgemeinmediziner sagt, es sei ihm nie um Wachstum zum Selbstzweck gegangen. Aber immer, wenn er eine Versorgungslücke identifiziert oder eine Idee hatte, wie man bei einem bestimmten Krankheitsbild die Versorgung verbessern könnte, dann habe er das eben gemacht. Und wenn Praxen in der Region keine Nachfolger fanden und drohten, geschlossen zu werden, hat er gesagt: „na gut, wir machen das“. Eissing sagt: „Das ganze Projekt ist eine Geschichte der Mangelversorgung und der Versuch, trotz des Mangels irgendwelche Lösungen zu finden, damit die Versorgung trotzdem stattfindet. Das war eigentlich immer meine Überschrift“.
05: Die Umsetzung: Der Patient im Mittelpunkt
Auch der Dermatologie-Schwerpunkt ist so entstanden: „Hier in der Region einen Termin zu bekommen, dauert sehr lange“, erzählt Anastasia Weizel. Vor acht Jahren ist sie als Medizinische Fachangestellte in die Praxis gekommen. Eissing hatte jemanden gesucht, der sich vor allem um die Wundversorgung kümmert. Jahrelang hat sie der damals noch in der Praxis tätigen Dermatologin assistiert und dabei auch einen guten Blick für eventuell bösartige Muttermale entwickelt. Als die Ärztin dann in den Ruhestand ging, übernahm Anastasia Weizel immer mehr Verantwortung. Eissing ermunterte sie schließlich, noch ein Studium zur PA anzuschließen. „Du schaffst das, hat er zu mir gesagt, und da habe ich es gemacht“, erzählt Anastasia Weizel. Neben Fulltimejob in der Praxis und zwei kleinen Kindern hat sie dreieinhalb Jahre lang studiert – und den Abschluss geschafft. Inzwischen ist sie Teil der Geschäftsführung des MVZ.
Neben der Rheumatologie ist Dermatologie auch weiterhin ihr Spezialgebiet, sie macht die Wundversorgung, kleine Eingriffe und auch das Hautkrebsscreening. Für ihre Bachelorarbeit hat sie 1000 Patientinnen und Patienten der Praxis auf Hautkrebs gescreent – mit Hilfe von KI. Mit Hilfe eines Programms erhärtet oder entkräftet sie den eigenen Verdacht. Bei Bedarf entnimmt sie das Muttermal entweder selbst oder überweist an einen Mund-Kiefer-Gesichtschirurgen, wenn es sich beispielsweise im Gesicht befindet. Ist es Hautkrebs, besorgt sie dem Patienten zügig einen Termin bei einem kooperierenden Hautarzt im benachbarten Ostfriesland. „Das alles zusammen geht mindestens ein halbes Jahr schneller als über den herkömmlichen Weg“, sagt sie.
Eissing beschäftigt neben Ärzten, MFA und PAs auch eine Hotelfachfrau („die macht die Anmeldung in der Neurologie ganz wunderbar“, sagt er über sie), eine Rechtsanwalts- und Notargehilfin, „die schreibt Anträge in beeindruckender Geschwindigkeit“, eine Friseurin „die ist super für alles Feinmotorische, beispielsweise Prick-Tests“, eine Ordensschwester, die neben ihrer Kompetenz auch Zeit für die Palliativpatienten mitbringt, Krankenschwestern und Altenpflegerinnen. Von den MFA sind zehn zu NäPas (Nichtärztliche Praxisassistentin) fortgebildet. Vier von ihnen fahren rund 1500 Hausbesuche pro Quartal und versorgen dabei Patienten zu Hause, in Alten- und Pflegeheimen. Darüber hinaus gibt es zehn ausgebildete und zusätzlich in Palliativmedizin weitergebildete Pflegekräfte, die zu rund 60 Menschen fahren, die sich in ihrer letzten Lebensphase befinden. Den Palliativstützpunkt leitet Bea Sancak. Die ist gelernte Medizinische Fachangestellte, hat zusätzlich eine Ausbildung als Altenpflegerin gemacht und zwölf Jahre in der Gerontopsychiatrie einer Klinik gearbeitet. Seit 12 Jahren ist sie nun in der Birkenallee, hat in der Zeit PA studiert und sich auf Palliativmedizin spezialisiert. Sie sagt: „Wir behandeln die Patienten ganzheitlich, und wir versuchen, weitere Krankenhausaufenthalte zu vermeiden“. Ein Pleuraerguss etwa oder Nebenwirkungen der Chemotherapie werden fast immer bei den oft täglichen Besuchen des Teams behandelt, so dass die Menschen in ihrem Zuhause bleiben können.
06: Die Herausforderung: Delegation in einem sehr regulierten System
Trotz der enormen Größe, die die MVZ Birkenallee GmbH inzwischen hat, sagt Eissing von sich: „Ich bin kein Unternehmer“. Und das wirkt vielleicht nur auf den ersten Blick wie ein Widerspruch: Denn Eissing hat, was einen guten Unternehmer auszeichnet: Gestaltungswillen, Mut, Risikobereitschaft, Kreativität und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen und dabei auch Rückschläge einzustecken. Aber er hat seine Entscheidungen nie an der Frage ausgerichtet, wie er seinen ökonomischen Erfolg maximiert. Denn er bekommt längst nicht alle Leistungen bezahlt, die er und sein Team erbringen. Für das komplizierte System der Honorarverteilung behandeln sie viel zu viele Patientinnen und Patienten. Für die, die über das Soll hinaus betreut werden, gibt es nur einen abgestaffelten Betrag. Auch Fördermittel habe er nie bekommen und auch keine Spezialverträge mit einzelnen Krankenkassen, die ihm eine zusätzliche Vergütung einbringen würden.
Was ist der Kern seines Systems? „Das Wichtigste ist fachliches Know-how“, erklärt der Hausarzt. Von Beginn an habe er darauf geachtet, andere fachlich so einzubinden, dass Aufgaben Schritt für Schritt delegiert werden konnten. Und je weiter sich die nichtärztlichen Berufsgruppen qualifizieren, desto mehr Tätigkeiten können sie übernehmen, die früher ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten waren.
Dabei bleibe der Hausarzt immer verantwortlich: „Ich muss einen Blick auf die Behandlungen der PAs haben, manchmal muss ich auch helfen. Aber bei Diagnostik und Therapie lässt sich unglaublich viel delegieren, wenn man seinen Mitarbeitern vertraut, sie qualifiziert und sich davon überzeugt hat, dass sie es auch können.“
Eissing ist sich im Klaren darüber, dass er im Zweifel für jeden Fehler seiner Mitarbeiter haftet: „Aber das ist völlig okay. Sonst könnten die ja nicht ruhig arbeiten.“
Er ist überzeugt: Als Arzt müsse man auch delegieren können und wollen. „Aber wenn das gelingt, dann kann ich mit viel weniger Ärzten viel mehr Patienten versorgen. Und das qualitativ deutlich besser, als wenn ich das alleine tun würde“.
07: Das Ziel: Menschen vor Ort gut versorgen
Das übergeordnete Ziel bei alledem: eine bessere Versorgung der Menschen in der Region. Diese verbessert sich in zweifacher Hinsicht – zum einen, weil bestehende Versorgungslücken geschlossen werden, und zum anderen, weil durch die Kooperation der unterschiedlichen Berufe und der dabei erfolgenden Spezialisierungen Angebote entstehen, die den Patienten eine umfassende Betreuung sichern.
Eissings Dreiklang aus Vertrauen, Qualifikation und Delegation stieß allerdings früh an Grenzen. Denn egal, wie sehr sich seine Medizinischen Fachangestellten fortbildeten, sie konnten schnell mehr, als sie rechtlich durften. Der Grund: In Deutschland stehen viele Tätigkeiten unter Arztvorbehalt, die in anderen Ländern von anderen Berufsgruppen erledigt werden. Eissing setzte deshalb schon früh auf PAs. Denn die dürfen aufgrund ihrer akademischen Qualifikation mehr ärztliche Aufgaben übernehmen, beispielsweise standardisierte Untersuchungen durchführen oder bei chirurgischen Eingriffen assistieren. „Das ist ein international anerkanntes Berufsbild mit einem Curriculum und es ist klar, welche Aufgaben sie übernehmen dürfen“, erklärt Eissing.
08: Die Lösung hat viele Facetten: Ein eigener Campus
Die Frage war nur: Wie kommen die PAs nach Papenburg? Weil Eissing wollte, dass seine besten Kräfte sich vor Ort weiterbilden können und für ein Studium nicht die Region und seine Praxis verlassen müssen, sah er sich um – und überzeugte schließlich die Hochschule Anhalt aus Köthen in Sachsen-Anhalt, in Papenburg eine Außenstelle zu eröffnen. Denn die Hochschule Anhalt war damals eine der ganz wenigen öffentlichen Hochschulen, die einen PA-Studiengang anboten, die meisten anderen waren privat.
Eissing baute dafür einen Campus in einer denkmalgeschützten Industriehalle. Seit 2021 bietet die Hochschule Anhalt in Papenburg den berufsbegleitenden Bachelor „Physician Assistance“ an.
Rund 30 Studentinnen und Studenten beginnen jedes Jahr das siebensemestrige Studium und lernen neben Theorie auch sehr viel medizinische Praxis. Neben Hörsälen gibt es Seminar- und Übungsräume, unter anderem eine lebensechte Reanimationspuppe und einen digitalen Anatomietisch, auf dem sich der menschliche Körper mit allen Muskelfasern, Organen und Gelenken darstellen lässt. Unter den Lehrkräften sind auch Hausärztinnen und Hausärzte sowie Fachärztinnen und -ärzte aus der Region und aus Sachsen-Anhalt.
Teil des Studiums ist auch eine Projektreise im jeweils siebten Semester, die die Studierenden nach Burundi führt. Bei dem Projekt „Reisende Hochschule“, das über den Kontakt zu einem in Meppen arbeitenden und aus Burundi stammenden Arzt entstanden ist, lernen die Studierenden etwas über die medizinischen Herausforderungen vor Ort und helfen beim Aufbau und der nachhaltigen Unterstützung von vier Krankenhäusern, einschließlich der Ausbildung von Personal, technischer Ausstattung und telemedizinischer Vernetzung mit Deutschland.

09: Die Zukunft: Wie nachhaltig ist das Modell?
Beim MVZ Birkenallee ist Eissing der Motor, der seit Jahrzehnten auf Hochtouren läuft. Was, wenn er eines Tages nicht mehr kann oder will? Sind dann Zehntausende von Menschen in und um Papenburg unversorgt? Damit das nicht passiert, sorgt der Hausarzt vor: „Das alles würde auch ohne Volker Eissing stabil laufen, wenn wir mindestens acht PAs haben, die die stabilen Säulen der Praxis sind – für jeden Standort einen oder eine. Diese Personen baue ich gerade auf“, sagt Eissing. Aber auch wenn Anastasia Weizel und ihre Kolleginnen und Kollegen der MVZ Birkenallee GmbH sich medizinisch und in Management-Fragen so weit qualifiziert haben, dass sie die Leitung übernehmen könnten, sie dürften es nicht. Denn um ein MVZ in der Rechtsform einer GmbH gründen oder übernehmen zu dürfen, muss man zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen sein. Das trifft auf Ärztinnen und Ärzte zu, auf Krankenhäuser, Kommunen und einige andere Akteure. Nicht aber auf PAs. „Deshalb suche ich einen ärztlichen Kollegen oder eine Kollegin, der oder die das übernehmen, aber wissen, dass sie den Wagen nicht alleine ziehen müssen. Solange muss der liebe Gott mich noch machen lassen“.
Neben der Frage nach der Zukunft in Papenburg stellt sich für Außenstehende auch die Frage, wie übertragbar das Modell ist. Wie sieht es aus in Regionen, die nicht diese eine Persönlichkeit haben, die vorangeht, die immer und immer wieder Lösungen findet und umsetzt? Eissing sagt dazu: „Wenn der Arzt begreift, dass Medizin eine Teamleistung ist und auch so handelt, dann ist das ein Modell, das die Versorgung in Deutschland grundlegend verändern kann“.

„Herzinsuffiziente Patienten bestelle ich regelmäßig ein. Wenn die beispielsweise Wasser einlagern, sehe ich das meist so rechtzeitig, dass wir das hier beheben können, ohne dass sie dafür ins Krankenhaus müssen“.
Ayline Schlarmann, Physician Assistant (PA)

4 zentrale Prinzipien in Papenburg
Qualifikation und Delegation
Fortgebildete Medizinische Fachangestellte und studierte Physician Assistants übernehmen Aufgaben, die vorher der Arzt erledigt hat und entlasten ihn dadurch deutlich.
Supervision und Kooperation
Niedergelassene Fachärztinnen und Fachärzte sowie Kliniken in ganz Deutschland bringen ihre Expertise ein und behandeln per Telemedizin – und bei Bedarf auch persönlich.
Moderne Technik inklusive KI
Digitale Tools und Künstliche Intelligenz unterstützen die Arbeit im MVZ. Sie helfen, Entscheidungen abzusichern, Abläufe zu vereinfachen und mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten zu gewinnen.
Engagement
Das „Prinzip Birkenallee“ gründet auf persönlichem Einsatz und einer Kultur des Miteinanders. Aus Wertschätzung und Verantwortung entsteht ein Umfeld, in dem sich alle mit Engagement einbringen.

„Wenn der Arzt begreift, dass Medizin eine Teamleistung ist und auch so handelt, dann ist das ein Modell, was die Versorgung in Deutschland grundlegend verändern kann“.
Dr. med. Volker Eissing, Facharzt für Allgemeinmedizin
Kontakt
Ihr Ansprechpartner
Rund um die Geschichte „Medizin ist Teamsache – Was in Papenburg schon Alltag ist“
Dr. Christian Schilcher
Project Manager Bertelsmann Stiftung christian.schilcher@bertelsmann-stiftung.deQuellen:
- https://www.papenburg.de/unsere-stadt/ueber-uns/daten-geschichte/basis-und-strukturdaten
- https://www.wegweiser-kommune.de
- Sozialbericht Papenburg: https://www.wegweiser-kommune.de/berichte
- https://www.kvn.de/internet_media/Mitglieder/Publikationen/Brosch%C3%BCren+und+Flyer/Versorgung+in+Niedersachsen_+Brosch%C3%BCre-p-29744.pdf )













